Zur Geschichte des Mathildenhofs
Die Geschichte des Mathildenhofs ist inzwischen nahezu lückenlos erarbeitet.
Sie ist ein Querschnitt durch die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des heutigen Bundeslandes Rheinland-Pfalz. Die häufigen Besitzerwechsel des stets begehrten Landsitzes vor den Toren der Stadt Mainz zeugen von den Verschiebungen des wirtschaftlichen und politischen Machtgefüges der Region innerhalb der letzten 430 Jahre.
Die Anfänge von 1574 - 1741
Der erst im 20. Jahrhundert »Mathildenhof« genannte Besitz geht vermutlich auf eine frühe Klosteranlage zurück.
Als erster Besitzer des Gutes kann Conrad Breder von Hohenstein (1574–1589) nachgewiesen werden, dessen Wappen und Jahreszahl 1574 den Keller unter dem linken Flügel des jetzigen Baues zieren.
Später gehört es Franz Friedrich Wilhelm Specht von Bubenheim, der es 1655 an Agnes Helene von Wallbrunn, geb. von Gemmingen verkauft. Durch Erbfolge gelangt es zu Georg Reinhard von Wallburn und dann bis 1709 an Franz Emmerich Wilhelm Friedrich Specht von Bubenheim, Domdechant und Erzpriester zu Mainz. Franz Anton Wolfgang Schütz von Holtzhausen, Burggraf und Oberamtmann zu Starkenburg, erbt den Hof aus der Familie seiner Mutter, verkauft ihn aber 1720 an Georg Wilhelm Specht von Bubenheim, Amtmann zu Werneck. Dieser vererbt das Haus an seine Söhne Lothar Franz Ignaz Specht von Bubenheim, Domkapitular in Mainz, und Johann Philipp Christoph Specht von Bubenheim, die an Johann Georg Nitschke verkaufen.
18. Jahrhundert
Der bürgerliche Beamte Johann Georg Nitschke wird 1693 von Kurfürst und Erzbischof Lothar Franz von Schönborn als Kammerdiener angestellt. Von Anfang an erledigt er alle Finanzangelegenheiten des Kurfürsten. Er gilt als engste Vertrauensperson des Erzbischofs. Unter Lothar Franz von Schönborn erreicht Nitschke großen Wohlstand. Nitzschke verfügte allein über ein privates Guthaben von 30 Tausend Gulden beim Fürsten. Der Schönborn’sche Weinbesitz im Rheingau wird ihm dazu als Sicherheit übergeben – taxiert mit 1.350 Gulden. Nitschke versteht es vortrefflich, sich durch private Dienste für den Kurfürsten unabkömmlich zu machen und wird 1715 in den Adelsstand gehoben. Seine offizielle Stellung als Kabinettsekretär spiegelt nur zum Teil seinen erheblichen Einfluss wieder. Der Bau- und Besitzleidenschaft seines Kurfürsten eifert er nach: 1701/02 lässt er einen großen Mainzer Barockbau, den Wambolder Hof (die heutige Lothar-Passage), als sein Stadtpalais errichten.
1727 erwirbt er den Hof in Nierstein. Damit verfügt Nitschke nun auch über ein eigenes Weingut und einen Landsitz in Stadtnähe. Nitschke vererbt es innerhalb seiner Familie, bis diese 1741 an die Freiin Sophie von Harstall verkauft. Das Wappen ihrer Familie ziert einen Kamin und ist vom Garten aus gesehen über der Tür des linken Flügels angebracht. Sophie von Harstall hat Finanzprobleme, und das Gut wird schon 1752 von Freiherr Carl Alexander von Sternenfels ersteigert.
Der nächste Eigentümer, der Beamte Johann Caspar Cunzmann, ersteigert den Hof 1770, nachdem der bankrotte Vorbesitzer von Sternenfels durch seine zahlreichen Gläubiger zum Verkauf gezwungen wurde. Cunzmann selbst schreibt, dass sich zahlreiche »Liebhaber« über mehrere Monate hinweg Bietgefechte für den Hof mit seinem Garten geliefert haben. Durch nachträgliche Störmanöver der von Sternenfels wird er gezwungen, eine »Nachweisung der Unumstößlichkeit«, in der er die Rechtmäßigkeit des Erwerbs verteidigt, zu verfassen.
Johann Caspar Cunzmann tritt 1742 als Jurist in den pfälzischen Staatsdienst. In fast 50 Dienstjahren gelingt es ihm, zu einer der wichtigsten Regierungspersönlichkeiten des Mannheimer Hofes aufzusteigen – zuständig für alle kirchlichen, Lehn- und Rechtsangelegenheiten. Er avanciert vom bürgerlichen Kriminalreferendarius zum »Wirklich Geheimen Staatsrat« und erhält 1790 von Kurfürst Karl Theodor den Reichsfreiherrenstand. In Mannheim erwirbt er in den Jahren 1751 bis 1765 das Areal für sein Wohnhaus und errichtet das »Palais-Cunzmann«, heutiger Sitz des Reiss-Engelhorn Museums und der Stiftung Curt-Engelhorn. Das Palais ist eines der wenigen noch erhaltenen Bürgerhäuser Mannheims. Die »Nachweis und der Unumstößlickeit« zeigt Cunzmanns juristische und politische Fähigkeiten, aber auch seinen Schreibstil. In seinen »Denkwürdigkeiten« schreibt sein Zeitgenosse, der Kabinettssekretär Stephan von Stengel, über »die verworrene undeutsche Schreibart Cunzmanns des Erzrabulisten«.
Cunzmann stirbt 1795. Sein Besitz, hauptsächlich Lehnsgüter, wird durch die napoleonischen Kriege schwer geschädigt. 1797 beklagt Cunzmanns Schwiegersohn von Weiler zwecks Erlangung der schwiegerväterlichen »Lehensprobststelle« die beträchtlichen Verluste der Niersteiner Weinvorräte »des besten dortigen Gewächs«. Das Gut in Nierstein geht im frühen 19. Jahrhundert von der Familie Cunzmann auf die Familien Schlender und Ernst von Deidesheimer und schließlich in den Besitzer der Mainzer Kaufmannsfamilie Fritzdorff über. Noch heute ist deren Name mit der sogenannten Fritzenhölle als Niersteiner Weinbergsname präsent.
19. Jahrhundert
Die Lauteren waren eine großbürgerliche Familie, die mit fast allen führenden Mainzer Familien (Michel, Kayser, Mappes und die Wormser Valckenbergs) verwandt war. Ihren Wohlstand verdankt sie der von Christian Lauteren im Jahr 1790 gegründeten Weinhandlung C. Lauteren. Am Ende der französischen Besatzungszeit ist Christian Lauteren der vermögendste Bürger von Mainz. Als Mitglied des Stadtrats sowie des Hessischen Landtages vertritt er Mainz auf dem Wiener Kongress 1814/1815.
Seinen repräsentativen Wohnsitz errichtet er im Zentrum der Stadt – 1806 kauft er den von Johann Georg Nitschke erbauten »Wambolder Hof«, die heutige Lothar-Passage, und begründet den langjährigen Firmensitz des Handelshauses Lauteren. Sohn und Enkel des Firmengründers (Clemens 1786–1877 und Christian Ludwig 1811–1888, dessen Mutter Franziska Kayser, Tochter des Spediteurs G. L. Kayser) führen die Firma zu weiterem Erfolg.
1833 gelingt Christian Ludwig Lauteren erstmals die Herstellung von Sekt in Deutschland. Wie sein Vater leistet er Pionierarbeit bei der Verkehrserschließung Rheinhessens und ist Großaktionär der Ludwigsbahn. Christian Ludwig gilt als Erfinder der Rheinufererweiterung. Wirtschaftspolitisch engagieren sich Vater und Sohn zudem als Präsidenten der Rheinhessischen Industrie- und Handelskammer.
1835 heiraten Christian Ludwig Lauteren und Charlotte Philippine Jacobine Michel, die Tochter des Industriellen Michel aus Mainz, die neun Monate später im Wochenbett stirbt. Der Landsitz der Familie Michel liegt ebenfalls vor den Toren von Mainz und wird noch heute von der Familie als Weingut geführt (Domdechant Werner’sches Weingut in Hochheim). Friederike Fritzdorff, Tochter des Floßholz-Händlers Caspar Jacob Fritzdorff aus Mainz, heiratet Christian Ludwig Lauteren, für den es die zweite Ehe ist. Der repräsentative Landsitz in Nierstein kommt wohl als Mitgift in die Familie Lauteren.
Christian Ludwig Lauteren beauftragt circa 1861 den bekannten Architekten Carl Wetter aus der Mainzer Stadtbaumeisterfamilie Wetter und errichtet den spätklassizistischen Bauteil. Nach dem Vorbild einer italienischen Villa der Renaissance entsteht ein Baukörper, der Wohnen und Repräsentation in bester Weise mit dem Betrieb eines Weinguts und einer Orangerie verbindet.
Der berühmte Landschaftsarchitekt Heinrich Siesmayer wurde mit der Anlage des Gartens beauftragt. Siesmayer gilt als wichtigster Gartenarchitekt des späten 19. Jahrhunderts im Rhein-Main-Gebiet. Unter anderem die Kurparks von Bad Nauheim und Bad Homburg sowie die Anlage des Bankiers Bethmann in Frankfurt sind ihm zu verdanken. Sein vielleicht größtes Verdienst ist die Gründung, Planung und der Bau des Frankfurter Palmengartens. Siesmayer besaß eine eigene Werkstatt für Spalierarbeiten, in der Pavillons, Lauben, Spaliere und Veranden entstanden. Neben dem noch erhaltenen Teepavillon des Mathildenhofs stammten von ihm wohl auch verschiedene inzwischen abgerissene Pavillons und das Spalierwerk der Veranda des Hauses, das Park und Haus über Rankpflanzen miteinander verband. Man kann bei der Erweiterung des Mathildenhofes von einer engen Zusammenarbeit zwischen Architekt und Landschaftsarchitekt ausgehen. Die Lauteren halten den Mathildenhof über drei Generationen in Familienbesitz. Alte Festordnungen von Gemeindeveranstaltungen zeigen, dass die Gärten häufig auch der Bevölkerung dienten und für Feste zur Verfügung gestellt wurden. Sinkende Einnahmen aus dem Weinhandel und Besitzverluste der Aktienpakete an der hessischen Ludwigsbahn zum Beginn des 20. Jahrhunderts mindern den Wohlstand dieser wichtigen Handelsfamilie.
Nach dem Tode seines Vaters, Kommerzienrat Clemens August Lauteren, verkauft die Erbengemeinschaft um Clemens Christian Lauteren 1909 den Gutsbesitz samt Inventar (ausgenommen war das Sterbezimmer) an die Großindustriellenfamilie die Freiherrn von Heyl zu Herrnsheim.
Kaiserreich und 20. Jahrhundert
Ähnlich wie die Familie Lauteren avanciert die in Worms ansässige bürgerliche Familie Heyl in der napoleonischen Zeit durch florierende Handelsgeschäfte, namentlich den Holzhandel, zum Großbürgertum. Im Kaiserreich gelingt ihr dann der Aufstieg in die Gruppe der Großindustriellen wie Krupp, Thyssen und von Stumm-Halberg.
Vermutlich durch eine Reise nach Paris entsteht bei Cornelius Heyl (1792–1858) die Idee zur Lederherstellung. Frankreich gilt als das »Erfinder-Land« des Lackleders – die Familie Heyl als die Erfinder der Lackleder-Fabrikation im industriellen Maßstab. Heyl exportiert seine Lederprodukte bald in die ganze Welt.
Nach dem frühen Tod der Söhne des o.g. Cornelius Heyl 1844/46 übernimmt der 19jährige Enkel Cornelius V. Wilhelm Heyl die unternehmerische Leitung und expandiert mit neuen Produkten aus Kalb- und Ziegenleder. Seine Fabriken umfassen 1913 über 500 Gebäude und beschäftigten mehr als 5000 Mitarbeiter. Als Unternehmer und als Politiker (Abgeordneter der Ersten Kammer der Hessischen Landstände, Reichstagsabgeordneter von 1874 bis zum Ersten Weltkrieg) prägt er die rheinland-pfälzische Landschaft und entwickelt eine Verkehrsinfrastruktur, von der das Bundesland noch heute profitiert. Er unterstützt die Verstaatlichung der Eisenbahnen – zum Leidwesen der Familie Lauteren, die dadurch erhebliches Vermögen als Großaktionär der Hessischen Ludwigsbahn verliert.
Cornelius V. Wilhelm Heyl heiratet Sophie Stein. Ihre gemeinsame Kunstsammlung wurde 1920 zu einer Stiftung, die heute als Museum Heylshof in Worms zu sehen ist.
Er legt erhebliches Privatvermögen in landwirtschaftlichen Grundbesitz an. Bei seinem Tod 1923 umfasst die Heyl’sche Güterverwaltung rund zehn Güter. Er hatte von Jugend an gesellschaftliche Verbindungen zu den führenden weinbautreibenden Familien der Region – zum Beispiel zu den von Buhls und den von Bassermann-Jordans – gehalten. Den stolzen Weingutsbesitz in Nierstein, den er 1909 von der Familie Lauteren erworben hat, vergibt er 30 Jahre lang als gemeinschaftliches Erbe. Nach Ablauf dieser Zeit darf ihn sein erstgeborener Sohn Cornelius VI von der Erbengemeinschaft erwerben.
Schon seit 1893 existiert das von Cornelius Heyl bei dem Schriftkünstler Joseph Sattler in Auftrag gegebene Etikett »Der blaue Mönch«, das inzwischen weltweit bekannt ist. Es wurde schon für die von Heyl’schen Flaschenweine der Lage Wormser Liebfrauenstift/Kirchenstück verwandt. Das bekannte von Heyl’sche Etikett, das von dem Schriftkünstler Otto Hupp heraldisch geschmücktes Weinlaub zeigt, wird ab dem Jahrgang 2010 von der Stiftung Mathildenhof wieder für die Weine aus dem Weingarten genutzt werden.
Seine Söhne Cornelius VI, Ludwig und Maximilian führen die Firma Cornelius Heyl weiter – Cornelius VI erwirbt dann gemäß testamentarischer Regelung seines Vaters den Gutshof aus dem Eigentum der Erbengemeinschaft und gibt ihm nach dem Tod seiner Frau Mathilde (geb. Prinzessin Isenburg und Büdingen) schließlich den Namen Mathildenhof.
Nach erneut komplexer Testamentslage im Anschluss an den Tod von Cornelius VI – der den erstmals seinem Vater verliehenen Titel eines Freiherrn von Heyl zu Herrnsheim führt – erbt das Weingut 1965 dessen Tochter Irmgard von Meding. Ihr früher Tod 1969 führt zu einem weiteren Erbfall, diesmal an die sechs Kinder Irmgards. Das nach vielen Jahren Erbenverwaltung inzwischen überschuldete Gut bekommt Irmgards fünftes Kind, Isa von Weymarn (geb. von Meding), überschrieben.
Ihr Ehemann, Peter von Weymarn, gibt vom Mathildenhof aus entscheidende Impulse für den deutschen Weinbau. Viele Gesetze des deutschen Weinbaus und die Flurbereinigung Niersteins wurden von ihm mitgestaltet. Der Weingarten des Hofes gilt als die Pionierfläche des ökologischen Weinbaus in Deutschland, der hier vor mehr als 30 Jahren von Peter von Weymarn weitblickend begonnen wurde. Unter der Führung der Familie von Weymarn errangen die Weine des Mathildenhofs höchste Anerkennung und Weltruf.
Ida Ahr und ihr Sohn Klaus Dieter Hermann Ahr erwerben Kapitalanteile an der Weingut Freiherr Heyl zu Herrnsheim Gesellschaft mbH. Enkel Carsten Klaus Ahr übernimmt den Weinbergsbesitz und die Gutsgebäude, erwirbt die Weinbergslagen Rothenberg und Rehbach. Er lässt das Hofensemble im Sommer 2003 unter Denkmalschutz stellen und beginnt die Sanierung von Haus und Garten. Ende 2003 gelingt es ihm, die Gemeinde, an die das Grundstück von den Vorbesitzern verkauft worden war, zu überzeugen, von einer Bebauung des historischen Weingartens des Mathildenhofes abzusehen. Statt dessen wird das Gelände durch eine von ihm gegründete gemeinnützige Stiftung als grüne Mitte Niersteins entwickelt. Der Rückbau des Hauses entsprechend den historischen Bauplänen und die Wiederherstellung des Siesmayer’schen Zier- und Nutzgartens sind in vollem Gange.
Die folgenden Bilder zeigen Ansichten des Hofes bevor und nachdem die historischen Gebäude wieder freigelegt wurden: